Feature by Brigitte Felderer, published in Eikon International Magazine for Photography and Media Art, Vienna, No. 70, 9 June 2010. A link in the text opens the relevant documentation in a new window.

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Für den 9. April letzten Jahres kündigte die Wiener Secession einen Vortrag von Marlene Haring an, als Teil der Reihe „Welche Freiheit“. „SECESSION WEGEN SCHAMBEHAARUNG GESCHLOSSEN“ war in großen Buchstaben auf der Einladung zu lesen. Als sich das Publikum schließlich einfand, konnte es das Gebäude nicht betreten. Das Portal war wohl geöffnet. Doch über die Stufen vor dem Eingang wucherten den Gästen viele lange blonde Haare entgegen, die aus dem Inneren der Secession regelrecht herauszuwachsen schienen. Die Raumkunst schien sich verlebendigt zu haben und drang nach außen. Das Publikum wurde gleich in den nahen Resselpark umgeleitet. In einem Gastgarten waren dort schon Tische reserviert. An diesem Abend wurde nicht mehr vorgetragen, die Künstlerin entließ ihr Publikum ins verordnete „zwanglose Gespräch“.

Im darauffolgenden Juni wurde in Innsbruck ein Performancewochenende veranstaltet. Die Eröffnung des Programms fand an einem Vormittag um 11.00 in der Galerie im Taxispalais statt. Kulturpolitikerinnen und Repräsentantinnen beteiligter Kultureinrichtungen hielten Reden. Marlene Haring saß im Publikum und schrieb mit. Als die letzte Rednerin um 11.45 meinte, die Veranstaltung nun endgültig für eröffnet erklärt zu haben, betrat die Künstlerin das Podium und legte los. Sie begann die mitgeschriebenen Reden vorzulesen, wiederholte das Gehörte und wiederholte es immer wieder, bis nach rund einer Stunde auch die letzten BesucherInnen die Galerie verlassen hatten. Im Grunde könnte man behaupten, dass das Publikum in Wien nie zur angekündigten Rede erschienen war und in Innsbruck noch vor der Eröffnung gegangen ist. Und doch haben alle alles richtig gemacht. Aus den Versuchsanordnungen Marlene Harings steigt man nicht mehr so schnell aus. „Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin ich Kapitän“ war auch schon 2005 eine unmissverständliche Ansage, damals an die Prüfungskommission der Akademie der bildenden Künste Wien, als die Künstlerin zum Examen antrat – als Ganzkörperblondine. Doch so viel Blondheit, die den ganzen Körper bedeckte, überforderte jede gewünschte Begehrlichkeit. Kommission und Publikum folgten ihr, die auf den Knien bis in ihre Wohnung kroch, um sich dort ins Bad zurückzuziehen. Hier stellte sie sich endlich dem Prüfungsgespräch, doch wer mit ihr reden wollte, sollte auch mit ihr baden. Kurzum: Wer sie prüfen wollte, musste mit in die Wanne.

Die Künstlerin möchte nichts weniger als den scheinbar so etablierten Allgemeinsinn, die nie mehr hinterfragten Sinnzusammenhänge und Bedeutungsübereinkünfte auf die Probe stellen. Mit bezwingendem Eigensinn entwickelt sie Krisenexperimente, die dem vertrauten sozialen Sinn zuwiderlaufen, Hierarchien und Regeln konsequent konterkarieren und damit freilich erst die Rituale sozialen Handelns sichtbar machen. Wenn sie sich hunderte Male mit der eingebauten Kamera ihres Computers selbst fotografiert, immer zwei Fotos in kurzen Abständen hintereinander aufnimmt und den Sprung zwischen den beiden Bildern gleichsam animiert wieder einem Publikum darbietet, scheint sie auf etwas, auf jemanden zu reagieren. Sie grimassiert, steht, sitzt, liegt, spiegelt sich. Kommuniziert sie mit uns, die wir draußen vor den Monitoren glotzen und spähen? Marlene Haring liefert ein reiches Angebot an Identitätsoberflächen, bietet ein Repertoire an Spiegelbildern und Reflexionen, auf die wir in dieser Vielfalt üblicherweise verzichten, längst in die gewohnten Rollen eingeübt und manchmal auch schon darin erstarrt.

Marlene Haring entzieht sich und letztendlich auch das Publikum der Konventionalität von Erwartungen. Jedes ihrer Experimente setzt höchste Aufmerksamkeit für die Reglements in Kunstbetrieb und Alltag voraus. In ihren multimedialen Strategien erarbeitet die Künstlerin eine ästhetische Kompetenz, die sich mit den großen Fragen nach den unausgesprochenen Kriterien für soziale Nähe und Distanz, für Hierarchien und akzeptierte Rollenbilder und deren Wechselwirkung auseinandersetzt – dies jedoch in Bildsprachen und Körpertechniken, die an den Empfindlichkeiten „dran“bleiben.

Marlene Haring fordert in jeder ihrer Aktionen ganz einfach den gebotenen Respekt gegenüber künstlerischer Kritikausübung ein.

2007 wird sie gebeten, für eine Ausgabe der Tiroler Kulturzeitschrift „Quart“ die Künstlerbeilage zu entwickeln. Jedem Heft liegt eine Fotokopie ihres Hinterns bei, in einigen kurzen Sätzen wandte sich Marlene Haring direkt an die Leserinnen und Leser: „Was wollen Sie von mir? Was will ich von Ihnen? Oder für Sie tun? Höflich grüßen, schmeicheln, Bericht erstatten, oder mit der Türe ins Haus fallen? Ganz ehrlich, ich wähle lieber Letzteres, denn ich habe ja nur die Chance eines Moments, indem an jene Stelle geblättert wird, an der Sie mich dann kennen lernen. Für Sie reiß’ ich mir den Arsch auf!


Marlene Haring: Crisis Experiments

A lecture by Marlene Haring as part of the series “What Freedom?” organised by the Vienna Secession was announced for 9 April 2009. The invitation read: “SECESSION: CLOSED BECAUSE OF PUBIC HAIR”. In the event, when the audience arrived, the building could not be entered. The exterior door was in fact open, but flowing out the Secession, from the entrance and over the steps was a flood of long blond hair. Some kind of installation art seemed to have come alive and forced its way outside. The audience was quickly directed to a nearby café, where tables had been reserved. There was no lecture that evening. Instead, “zwangloses Gespräch” — meaning informal discussion, but literally, unforced speech — was left to the audience.

In June the same year, there was a performance weekend in Innsbruck. The official opening of the programme took place at 11 a.m. at the Galerie im Taxispalais. There were speeches by local politicians, cultural policy-makers and representatives of the participating institutions. Marlene Haring sat in the audience and took notes. When the last speaker finally declared the event open forty-five minutes later, Marlene Haring came to the podium and got started with her performance entitled The Palais at 11.45am. She began rereading the speeches that had just been heard and repeated them over and again. After more than an hour the last visitors had left the gallery.

Basically, one could say that the audience in Vienna never showed up to the talk that was announced, and in Innsbruck they left before the opening. And yet, everything was done correctly.

It’s not so easy to get out of Marlene Haring’s experiments.

Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin ich Kapitän (Marlene Hairy, or In My Bathtub I Am the Captain), 2005, was already an unmistakeable statement, in this case addressed to the examination committee of Vienna’s Academy of Fine Art, the artist appearing for her final examination as full-body blond-haired creature. But that much blondness, covering the whole body, outstripped all the desire you could wish for. The committee and an audience followed as the creature made her way on all fours to her apartment, where she withdrew to the bathroom. There the examination could begin, but whoever wanted to talk with her had to get in the bath with her.

The artist wants no less than to put established consensus — the normally unquestioned coherence of meaning and agreed interpretation — to the test. With compelling obstinacy, she develops crisis experiments that work against trusted social conventions, that thwart hierarchies and rules and thereby clearly make visible the rituals of social behaviour.

When she takes hundreds of photographs of herself with her computer’s built-in camera, always two photos in quick succession, and animates the jump between the two images, then presents it to an audience (Photoboothautograph, 2009), it seems as if she is reacting to something or someone. She grimaces, stands, sits, lies, mirrors herself. Is she communicating with us, we on the outside, gawking and staring in front of the monitors?

Marlene Haring delivers a generous invitation to the territories of identity; she offers a stock of mirror-images and reflections which we could normally do without in such abundance, long-practiced as we are in our accustomed roles, and sometimes already fixed in them.

Marlene Haring withdraws herself, and in the end the audience too, from the conventionality of expectations. Each of her experiments calls for the strictest attention to the regulations of art and everyday life. In her cross-media strategies, Marlene Haring has elaborated an aesthetic competence which engages with big questions: about the unspoken criteria of intimacy and distance; about hierarchies, social role-images, and their interactions — but executed in a visual language and with a body technique which touches our sensibilities. In each of her actions, Marlene Haring simply claims the respect critical practice requires.

In 2007, she was commissioned to make an artist’s supplement for an issue of the Tyrolean culture magazine Quart. Each copy enclosed a unique photocopy of her arse (Marlene Haring als Beilage [as insert/side dish], 2007), and in a few words Marlene Haring addressed herself directly to the readers: “What do you want from me? What do I want from you? Or what shall I do for you? To greet you politely, flatter you, report to you, or to go like a bull at a gate (to blurt something out)? Honestly, I choose the latter, since I do only have a moment’s chance when you get to this page, where you could get to know me. Für Sie reiß’ ich mir den Arsch auf!” — For you, I work my arse off, but literally: I tear my arse open.